Das erneute Kentern eines Bootes; tagelang abgewiesene Schiffe der zivilen Seenotrettung; weitere Push-Backs an den Grenzen zur Türkei oder Bosnien; brennende Lager wie Moria oder der „Dschungel von Calais“. Bei solchen Katastrophen ist sie dann schnell wieder da: Die Aufmerksamkeit für jene Themen, die in der Nachrichtenwerttheorie ganz weit oben stehen. Leid, Feuer und zerstörte Schicksale machen natürlich Schlagzeilen. Kurz danach ist es dann aber wieder ruhig um das jeweilige Thema. Bis zur nächsten menschlichen Katastrophe. Und die Antwort ist auch meist leicht zur Hand – ob von rechts oder von links: Die EU hat versagt. Entweder müssten die Grenzen vollkommen verriegelt werden oder aber müssten wir umgehend alle Lager evakuieren und in Städte in Deutschland bringen.
Was in der Debatte zu kurz kommt, sind die zwei Stützpfeiler der jetzigen Misere: Einerseits der EU-Türkei-Deal zur Geflüchteten-Abwehr, andererseits das krachend gescheiterte Dublin-III-System, das die Erstaufnahme Asylsuchender regelt. Nichts wird sich ändern, solange darauf die EU-Asyl- und Migrationspolitik basiert.
Mit dem Finger auf „die EU“ zu zeigen, wäre aber wohlfeil, denn der EU-Türkei-Deal wurde ganz wesentlich in Berlin und Den Haag ausgearbeitet. Die anderen Staaten zogen willig mit. Und das Europaparlament – die einzige demokratisch gewählte EU-Vertretung – wurde erst gar nicht gefragt, dabei hat es seit dem Lissabon-Vertrag eigentlich ein verbrieftes Mitspracherecht in Asylfragen.
Und das Dublin-III-System, das alle Verantwortung den Mittelmeer-Anrainer-Staaten zuschreibt? Hätte längst überarbeitet werden müssen, weil es sich seit Jahren als vollkommen unzureichend erweist.
Dublin, war da was?
Dieses Dublin-System – das System, das nahezu alles regelt, was mit Geflüchteten bei ihrer Ankunft auf EU-Boden zu passieren hat – wurde bereits grundlegend überarbeitet. Und noch dazu wurde es richtig gut*. Diesen Reformtext nahm das Europäische Parlament am 6. November 2017 mit einer 2/3 Mehrheit an. Hinter ihm stehen sechs Fraktionen, die zusammen 180 nationale Parteien vertreten. Dieses Gesetz hätte zahlreiche Verbesserungen für die Betroffenen bedeutet, seien sie Geflüchtete oder eben Erstaufnahmestaaten. Aber ging der Text den Regierungen in Berlin, Den Haag und Warschau oder Wien einfach zu weit, sodass sie den Vorschlag in den Ratsgremien seither gemeinsam blockieren und die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Europäischen Parlament verweigern. Das EP wartet bis zum heutigen Tag auf eine konstruktive Reaktion aus dem Rat (seit 1.038 Tagen). Und hierbei gehen die Ratspräsidentschaften aus Österreich (zweite Jahreshälfte 2018) und jene aus Deutschland – das aktuell den Vorsitz innehat – Hand in Hand:
Die Ratspräsidentschaft aus Österreich – damals noch gemeinsam mit den Faschist*innen der FPÖ – hatte ein wesentliches Ziel in ihrer sechsmonatigen Amtszeit, nämlich das Thema Migration einfach nicht anzurühren. Waren sie nach dem einjährigen Aussitzen doch die letzte Regierung, die vor der Europawahl 2019 noch so ein Monsterpaket hätte durchbringen können. Schaut man sich aber die Tätigkeiten der österreichischen Ratspräsidentschaft an, so behandelten sie absolut alles, nur eben nicht das Asylpaket. Frei nach dem Motto: Nach der Wahl werden sicher andere Verhältnisse im Parlament herrschen.
Erwartungsgemäß kam es dann auch so und die progressiven Mehrheiten von 2017 sind nunmehr passé. Aber der Vorschlag steht noch immer, wenn auch weiterhin nicht zur Debatte. Deshalb ist jetzt die Ratspräsidentschaft der Bundesregierung am Zug und gibt dem fortschrittlichsten Text, den die EU in Sachen Migration je ausgearbeitet hat, den Rest: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die glorreiche Aufgabe, doch bitte einen komplett neuen Vorschlag auszuarbeiten. Alles auf Anfang. „2015 darf sich keinesfalls wiederholen„, lautet dabei das Credo. Weg also mit der Wahrung der Menschenrechte, jetzt ist die Wahrung der Kontrolle mehrheitsfähig im Parlament.
Die Bundesregierung, die 27 bzw. 26 anderen nationalen Regierungen und die nationale Berichterstattung haben den Vorschlag des Europaparlaments schlicht übergangen. Nahezu komplett. Man wollte diesem Text einfach keine Chance geben. Dabei hat das Parlament nicht nur gute politische Arbeit geleistet, sondern es hat vor allem bewiesen, dass fraktionsübergreifende europäische Einigungen selbst in dieser Frage möglich sind. Aber in den Nationalstaaten wollte niemand aus seinem Schneckenhaus kommen. Alle haben es sich viel zu gemütlich gemacht mit dem EU-Türkei-Deal und einem Dublin-III-System, das den Norden größtenteils unbehelligt und den Süden mit den Aufgaben alleinlässt. Dass die Migrationsbewegungen der letzten Jahre aber erst der Anfang gewesen sein können – in Anbetracht der Konterrevolutionen in den arabischen Staaten oder des Klimawandels – übersehen alle Beteiligten geflissentlich. Das Thema wird sich nicht aussitzen lassen. Progressive, europäische Lösungen sind unausweichlich, wollen wir unsere moralische Identität nicht völlig aufgeben.
Doch findet weder die Schizophrenie im Umgang mit der Türkei substantielle Kritik, noch der Rechtsbruch, den die EU-Mitgliedstaaten mit ihrer Blockade dieser Dublin-Reform begehen: Seit dem Lissabon-Vertrag hat der Rat die Pflicht, innerhalb von sechs Monaten auf Vorschläge aus dem EU-Parlament zu reagieren. Ein solcher Verhandlungsprozess wäre vor dem „Unionsstreit“, vor schwarzblau in Österreich und auch vor Salvini gekommen. Man will sich kaum ausmalen, wieviel individuelles Leid hätte verhindert werden können – doch wo keine Klägerin, da keine Richterin. Mit der Umsetzung dieses Gesetzesvorschlags des Europaparlaments wäre Moria zu verhindern gewesen, weil es Moria so nicht mehr hätte geben dürfen.
Und der EU-Türkei-Deal macht es nahezu unmöglich, einen Asylantrag in Europa zu stellen, ohne dafür in ein Boot steigen zu müssen. Sichere Fluchtwege sind das einzig wirksame Mittel, um das Drama auf dem Mittelmeer zu beenden. Aber das nimmt man politisch halt in Kauf, so einfach ist das. Und was soll überhaupt dieses lästige Europaparlament!?
(c) Bild: Nora Börding: BringeinenStuhl-42
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