Was interessiert mich die Europawahl von gestern!?


Der Rat der Regierungen der Mitgliedstaaten entschied sich nach langen Verhandlungen dazu, dem Europaparlament am 16. Juli Ursula von der Leyen (CDU) als nächste Präsidentin der EU-Kommission vorzuschlagen.

Damit sind – etwas mehr als einen Monat nach der so viel beschworenen Europawahl – alle der angetretenen Spitzenkandidaturen für den höchsten Posten in der EU aus dem Rennen. Dieser Vorschlag nahm dann auch Auswirkungen auf das Europaparlament und seine Wahl des EP-Präsidenten, da die christdemokratische (EVP) und die liberale Fraktion („Renew“ Europe) – Gewehr bei Fuß – prompt ihre Kandidaturen für den Posten der Parlamentspräsidentschaft zurückzogen und das Feld dem italienischen Sozialdemokraten David Sassoli überließen, so war beispielsweise Ska Keller von den Grünen letztlich chancenlos. Teil dieses unschönen, aber leider gewöhnlichen Deals der drei Großparteien ist die Verabredung darauf, dass Manfred Weber (CSU), der ehemalige Spitzenkandidat der EVP, zur Halbzeit im Europaparlament übernehmen könnte. Auch wenn damit eine der sechs Spitzenkandidaturen langfristig wohl doch nicht ganz leer ausgehen würde, so ist das System der Spitzenkandidaturen in seiner ursprünglichen Form wohl erledigt. Entweder es wird innerhalb der nächsten fünf Jahre reformiert oder nur mehr zur Randnotiz in der EU-Geschichte verkommen.

Spitzenkandidatur – wer hat’s kaputt gemacht?

Nicht unbedingt die Regierungen der Mitgliedstaaten, auch wenn sie eine alles andere als rühmliche Rolle spielten. Vielmehr war das System bereits in der Form, in der es in die Europawahl ging, leider eine Totgeburt.

Und das ist in zweifacher Hinsicht die Schuld von Manfred Weber selbst. Erstens aus politischen Gründen, da er ebenso energisch gegen die Einführung transnationaler Listen kämpfte, wie er für den Erhalt des Prinzips (s)einer Spitzenkandidatur stritt.
Das Hauptargument von Emmanuel Macron (En Marche, Liberale), der durch die zahlreichen liberalen Regierungen der EU-MItgliedstaaten ein gewichtiges Wort im Rat hat, war das Fehlen eben dieser transnationalen Listen: Weber war nur in Bayern, Timmermans nur in den Niederlanden, Keller nur in Deutschland zu wählen, etc. Ohne gesamteuropäische Wahllisten mache das Prinzip der Spitzenkandidaturen keinen Sinn, womit Macron nicht ganz unrecht hat.
Der Grund jedoch, warum wir diese Listen nicht haben, ist dass Manfred Weber unter Zuhilfenahme der Stimmen von den Brexiteers (EKR) und den Fremdenfeindlichen (ENF) die Einführung eben dieser Listen im Europaparlament verhinderte – gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, Liberalen, Grünen und Linken. In Sachen Macron wurde ihm das letztlich zum Verhängnis, der so seine späte Rache feierte – ein Elfmeter für den Franzosen, der Weber gegenüber ohnehin nicht wohlgesonnen war.

Der zweite Grund für die Schuld Webers am Scheitern des Prozesses ist nämlich eher persönlicher Natur: Weber war von Beginn an einfach der falsche Mann – ohne Regierungserfahrung, ohne politisches Format und ohne wirkliche Vermittlerkompetenzen, weder nach außen noch nach innnen. Michel Barnier (Frankreich, Republikaner), dem Brexit-Chefunterhändler der EU, gelang es im Parlament beispielsweise auch stets, die Linken in die Verhandlungen zu integrieren. Weber hingegen war immer ein Spalter. Außer mit Sozialdemokratie, Konservativen, Liberalen und neuerdings zwangsweise auch mit den Grünen, konnte er mit anderen politischen Gruppen nichts anfangen. Kleinstparteien und Linke bekämpfte und diffamierte er Zeit seines EP-Lebens, nicht zuletzt ist er auch maßgeblich an dem Vorhaben der Wiedereinführung der Prozenthürde für die Europawahl 2024 in Deutschland beteiligt – in diesem Fall dann im Schulterschluss mit der Sozialdemokratie. Kurzum war Manfred Weber von Anfang schlicht ungeeignet. Das mag für ihn persönlich bedauerlich sein, aber für die EU ist es ein Gewinn, ihn nicht an der Spitze der EU-Kommission zu wissen. Weber ging es von Anfang an leider nur um Weber.

Und die anderen Spitzenkandidaturen?

Damit Macron seine Argumentation aufrecht erhalten konnte, musste die liberale Spitzenkandidatin Margrethe Vestager (Dänemark) sehr zurückhaltend auftreten. Im Parlament wurde mit dem Rumänen Dacian Cioloș eine neue Führung in der liberalen Fraktion installiert, die im Gegensatz zu Guy Verhofstadt (Belgien) kaum Verhandlungsmasse im EP hat, da er gerade seine ersten Schritte im Haus macht. Dass er früher einmal Kommissar war, hilft ihm für die EP-Diplomatie nicht sehr viel, er blieb in den ersten Wochen unscheinbar. Die Liberalen verhielten sich damit insgesamt sonderbar passiv und ihre eigentlich aussichtsreiche und fraktionsübergreifend geschätzte Kandidatin erhielt damit keine richtige Chance.
Für die Grünen Ska Keller oder Bas Eickhout (Niederlande) (über den seither niemand mehr spricht) hätte es schon ein mittelgroßes Wunder gebraucht, um den Posten der Präsidentschaft der Kommission zu erringen. Ein noch größeres Wunder hätte es wohl für den Kandidaten der EU-Skeptiker von der EKR (Jan Zahradil, Tschechien) und ebenso für die Kandidatin und den Kandidaten der Linken gebraucht, Nico Cué (Belgien) und Violetta Tomić (Slowenien).
Frans Timmermans, der Sozialdemokrat aus den Niederlanden, hatte hingegen zeitweise sehr gute Aussichten darauf, der mehrheitsfähige Kompromisskandidat zu werden, doch haben sich die Staats- und Regierungschefs bzw. -Chefinnen hier von den vier Visegrád-Staaten Tschechien, Ungarn, Polen und Slowakei auf der Nase rumtanzen lassen bzw. war deren grundlegend ablehnendes Auftreten ein willkommener Vorwand für die anderen von der EVP geführten Regierungen, Timmermans letztlich doch nicht mitzutragen.

Grüppchenbildung auch im Europaparlament

Gleich nach der Europawahl bildete sich die Simbabwe-Gruppe, in der sich die Fraktionsspitzen der Volkspartei, der Sozialdemokratie, der Liberalen und der Grünen zusammentaten, um sich (etwas anmaßend) stellvertretend für das EP auf eine Kandidatur zu einigen. Die anderen Fraktionen, besonders die Linken (GUE/NGL), wurden aus diesem Prozess rausgehalten. Wie es aus der Conference of Presidents (dem gemeinsamen Gremium aller Fraktionsspitzen) nach außen drang, waren darauf besonders die Grünen bedacht.

Letztlich fand sich in diesem Format jedoch auch nach mehreren Wochen keine Mehrheit für eine der Kandidaturen. Die vier Fraktionen manövrierten sich in eine inhaltliche Sackgasse. Damit verhinderten sie einen Alternativprozess.
Sei es mit der Aufnahme anderer Fraktionen in diesen erlauchten Kreis.
Sei es mit der Bildung einer potentiellen Mehrheit ohne die EVP um Timmermans oder Vestager.
Sei es mit der Erprobung neuer Formate wie einer großen Parlamentsdebatte oder sei es mit einer Probeabstimmung im gesamten Plenum. Die nötige Zeit für solche Vorgänge hätte man sich einfach nehmen müssen!

Doch blieben die vier lieber unter sich und so verstrich die Zeit in unorigeneller Weise. Ein exklusiver Club, der exklusiv dabei versagte, dem Parlament eine starke Position zu verschaffen. Damit hatte der Rat letztlich leichtes Spiel.

Der Rat und das Kommando an das Europaparlament

Es kostete die Staats- und Regierungschefs bzw. -Chefinnen letztlich bloß einige Stunden der Kungelei (während gleichzeitig unter anderem Carola Rackete verhaftet und ein Flüchtlingslager in Libyen bombardiert wurden), um sich auf vier völlig neue Namen zu einigen.
Die Fraktionen im Parlament murrten anfangs zwar bedingt, doch fügten sich die beiden Fraktionen mit den meisten EU-Regierungsführungen letztlich doch: Namentlich die Christdemokratie/Volkspartei (EVP) und die Liberalen („Renew“ Europe). Sie besaßen die Dreistigkeit, ihre eigenen Kandidaturen einfach wieder zurückzuziehen bzw. gar nicht erst wen ins Rennen zu schicken und stellten sich stattdessen hinter jene der Sozialdemokratie. Die Wahl war damit bereits nach zwei Wahlgängen erledigt. Spätestens jetzt war das Europaparlament vollends düpiert, auch wenn es da schon niemanden mehr interessierte. Am Rande waren dann auch die deutsche SPD-Spitzenkandidatin und jene der FDP periphere Gewinnerinnen der Woche; Katarina Barley und Nicola Beer wurden, ohne jedwede Erfahrung in der Europapolitik oder im Europaparlament, zu dessen Vizepräsidentinnen gewählt.

Die hohe Politik im Europaparlament und den anderen EU-Institutionen verkommen damit allmählich zur Trainingswiese für ausrangierte, abgeschobene oder untaugliche nationale Politiker und Politikerinnen. Nach der Wahl zur EP-Präsidentschaft lässt sich deshalb wohl auch nicht annehmen, dass der Vorschlag Ursula von der Leyen tatsächlich abgelehnt wird. Die meisten Fraktionen folgen der Vorgabe aus den Regierungen in den nationalen Hauptstädten. Das wäre ein neuerliches Armutszeugnis für die demokratische Emanzipation des Europaparlaments. Denn dass die europäische Sozialdemokratie nicht umkippt oder gekauft wird, lässt sich erst glauben, wenn es denn wirklich passiert. Leider gilt das auch für manch andere Fraktion.

Sollte es diesmal eine wirkliche Koalition des parlamentarischen Widerstands geben – wenn sich schon keine der Produktivität finden wollte – so möge die sich doch jetzt bitte zügig bilden, standhaft bleiben und laut hervortun. Es ist vernünftiger, den Prozess der Suche einer neuen Kommissionspräsidentschaft von vorne zu beginnen, als Deutschlands schwächtes Kabinettsmitglied in der EU auf höchster Ebene wiederzuverwerten.

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